In die Jahre gekommen
Dunkelheit hüllt den Raum ein. Der flackernde Feuerschein hat an Intensität verloren. Im großen Ohrensessel kauert eine Person, den starren Blick in die Reste der Glut gerichtet.
„Komm näher, mein Sohn. Schön, dass du deinen alten Vater mal wieder besuchst. Du kannst gleich ein paar Scheite auflegen. Mir wird kalt.“
Ein hochgewachsener junger Mann tritt an die Feuerstelle heran, bückt sich und türmt Holzscheite auf. Die Flammen greifen gierig danach.
„Du scheinst ja mächtig viel zu tun zu haben. Wenn ich so sehe, wie zielsicher du dein Imperium vergrößerst und vor allem kontrollierst.“
„Ja, Vater, da magst du recht haben. Die Aktien stehen gut. Das Geschäft mit der Angst läuft besser denn je.“
„Zu meiner Zeit … „
„Aber Vater, es ist immer noch deine Zeit und es wird auch stets deine Zeit bleiben.”
„Sicher, ich weiß. Aber die Macht habe ich weitergegeben. Ich habe vertrauensvoll die Geschicke in deine Hände gelegt. Ich bin eben zu alt, zu verbraucht, nicht mehr motiviert genug. Und du verstehst das Geschäft. Bist ja schließlich mein Sohn.“
Stolz richtet sich der junge Mann auf und legt sanft seine Hand auf die Schulter des Vaters.
„Vater, du kannst es aber auch nicht lassen. Oder? Die kleinen Aktionen, die mir zu Ohren gekommen sind, tragen deine Handschrift.“
„Ich bin froh, dieser garstigen alten Hexe, die sich angeblich um mein Wohlergehen kümmert, einmal entwischt zu sein. Ich musste mal wieder spüren, wie sich Freiheit anfühlt.“
Ein Grinsen huscht über das Gesicht des Sohnes und im Feuerschein verlieren seine Züge die Härte und das markante Aussehen.
„Erzähl mir, was dich nach Berlin in den Grunewald geführt hat?“
„Mich zog es zum Teufelssee. Es ist schon ein erhabenes Gefühl, über die Teufelsseechaussee zu flanieren und auf den begrünten Berg zu schauen, der auch meinen Namen trägt. Die Wege am See sind zugewuchert, die Natur erobert sich dort einen Teil zurück. Das Ufer ist an einigen Stellen kaum zugänglich. Diese Region ist kein Magnet für die Allgemeinheit. Vereinzelte Jogger liefen über die ausgetretenen Pfade. Und der Nebelschleier, der sich wie eine Lage grauen Tülls über die Wasseroberfläche gelegt hatte, dämpfte jegliche Laute. Ich habe mir nur einen kleinen Spaß erlaubt, als ich mich auf die sumpfige Uferböschung gekauert habe und mit dezentem Gestöhne die kleine blonde Läuferin in Angst und Schrecken versetzt hab. Der panikartige Schrei, der ihrer kleinen Kehle entwich, klingt mir heute noch in den Ohren und beflügelt meine Fantasie stets erneut.“
Der Sohn zieht sich den zweiten Sessel näher an die Feuerstelle und nimmt Platz.
„Hast du dich auch in das Großstadtgetümmel der Hauptstadt gewagt?“
„Nein, das ist nicht mehr meine Welt. Außerdem hatte ich keine Zeit mehr. Diese Weib, das sich meine Betreuerin schimpft, hätte mir das Leben zur Hölle gemacht, wenn ich nicht pünktlich zum Abendessen erschienen wäre.“
„Schade, Vater. Hättest du mich vor deiner Exkursion informiert, hätten wir uns in der Hauptstadt treffen können. Ich hatte in der Weihnachtszeit dort geschäftlich zu tun.“
„Ich war froh, mich nach meinem kleinen Ausflug wieder in mein ländliches Domizil zurückziehen zu können. Hier fühle ich mich wohl. Schließlich habe ich hier auch meine Spuren hinterlassen und es bieten sich stets kleine Ausflüge, die einem alten Mann wie mir Spaß machen. In weltpolitische Geschehnisse greife ich nie wieder ein. Ich beschränke mich auf die ländliche Idylle des Münsterlandes. Mythen, Schauergeschichten und Legenden sind in dieser Region zuhause und reichen mir als Basis, um Angst zu verbreiten. Erst neulich habe ich mich bei einem Spaziergang durch die Rekener Berge im Gebüsch versteckt und beobachtet, wie eine Gruppe kleiner Kinder mit einer Leiterin an dem Ort Halt machte, an dem ich vor Jahren einmal eine Begegnung mit einem Schusterjungen hatte. Noch heute ärgere ich mich, dass ich auf das Gerede dieses kleinen Schlaumeiers hereingefallen bin.“
„Tja, Vater. Verzeih mir, aber wenn ich daran denke, wie du dich mit dem schweren Sack voll Steinen abgeschleppt hast, nur um einen Dom damit zu bewerfen“, muss ich etwas schmunzeln.“
„Diese Gören fingen an zu zählen, wie all diejenigen, die einen Ausflug zu meinen Steinen machen. „Merkt euch die Zahl gut“, sagte dieses junge Mädchen, das die Kleinen beaufsichtigte. „Wenn wir beim nächsten Mal wieder hierher laufen, werdet ihr feststellen, dass ein Stein fehlen wird.“
„Ich hab mich natürlich wieder einmal tierisch aufgeregt. Woher will diese blöde Gans wissen, wann es mir genehm ist, einen Stein mitzunehmen und wann nicht. Zuerst habe ich versucht, um der Frau eins auszuwischen, der Gruppe ein kleines Mädchen zu entlocken. Ich habe all meinen großväterlichen Charme eingesetzt, um sie dazu zu bewegen, sich von der Gruppe zu entfernen. Aber es hat nicht geklappt. Den Kleinen hatten Eltern und Erzieher sicher in das Bewusstsein eingemeißelt, nie mit einem fremden Mann mitzugehen, egal wie freundlich er auch ist.“
„Und, was hast du dann gemacht?“
„Ich habe mir einfach zwei Steine unter den Arm geklemmt und sie mitgenommen. Wie viele Steine ich entwende, ist immer noch meine Entscheidung.“ Trotzig legt der alte Mann den Kopf in den Nacken.
„Sind die Kinder denn wieder gekommen?“, fragt der Sohn, obwohl ihn diese kleinen rührseligen Abenteuererzählungen seines alten Vaters enorm langweilen. Er ist einfach nur froh, dass er sich in seinem hohen Alter zu beschäftigen weiß.
„Auf meinem nächsten Spaziergang hörte ich schon von Weitem die schrecklich hohe Stimme dieser Erzieherin. Ich hoffte nur, sie hätte auch die gleiche Kindergruppe wieder dabei. Als mich ein kleines Mädchen anspricht und mir durchs Gebüsch zuruft, dass ich verschwinden soll, weil sie immer noch keine Lust habe, mit mir zu gehen, habe ich die Bestätigung, dass es dieselben Kinder sind.“
Der junge Mann erhebt sich. Zeichen, dass er den Besuch bei seinem Vater beenden will. Er zieht den Ärmel seiner Jacke hoch, schaut auf die Uhr.
„Ich weiß, Zeit ist Geld und du hast es wie immer eilig. Aber ich muss dir noch schnell erzählen, was die junge Frau für ein Gesicht gemacht hat. Panik stand ihr auf die Stirn geschrieben, als bei jedem erneuten Zählen immer zwei Steine fehlen. Sie trieb ihre Schäfchen zusammen und verließ fluchtartig die „Düwelsteene“. Sie wird keinen Ausflug mehr in die Rekener Berge unternehmen, da kannst du dir sicher sein.“
„Komm, lass dich umarmen. Wir sehen uns in einigen Wochen wieder. Ich jette im Moment von Kontinent zu Kontinent. Was hast du denn mit den Steinen gemacht, bevor du sie wieder zu den Teufelssteinen zurückgelegt hast?“
„Auf meinem Weg bin ich über die Autobahn gekommen. Lange habe ich dort auf der Brücke gestanden und auf den richtigen Moment gewartet, einen Stein auf die Fahrbahn zu werfen. Aber an dem Tag war die Straße nicht gut frequentiert. Ich bin dann zum Bahnhof Reken gegangen. Dort wird die St. Elisabeth Kirche umgebaut. Gerne hätte ich einen Stein gegen das Mauerwerk geschleudert. Wenn ich schon den Aachener Dom vor Zeiten nicht damit zum Einsturz bringen konnte … Ach lassen wir das. Ich hab die Steine vorerst einfach auf ein Feld gelegt.“
Der Sohn tritt an die Tür. Reicht seinem Vater noch einmal die Hand.
„Mach´s gut. Aber so ein kleines bisschen nickelig bin ich schon. Bevor ich die Steine zurückgelegt habe, hab ich sie einmal kräftig auf den Boden fallen lassen. Die Hexe hat erzählt, in der Region hat es einen derben Wasserrohrbruch gegeben. Wer weiß, vielleicht bin ich ja dafür ein klein wenig verantwortlich.“
(Brigitte Vollenberg)
Anmerkungen zum Text:
Der Teufelsberg ist ein Trümmerberg, aus dem Schutt der zerstörten Stadt Berlin nach dem 2. Weltkrieg. Er liegt im Westen Berlins im Ortsteil Grundewald an der Teuffelsseechaussee. Seinen Namen hat er vom nahegelegenen Teufelssee.
Die Teufelssteine (Düwelssteene) bei Heiden, in den Rekener Bergen, sind ein 4 000 Jahre altes Steinkammergrab aus der Jungsteinzeit. Einer Legende nach, soll hier der Teufel einem Schusterjungen begegnet sein.
Erschienen in Kiek äs! Reken